"Für ein Kaddisch" ist unter dem Titel "Kiesel zum Gedenken" veröffentlicht worden.
ISBN 978-3-939973-32-4
erschienen am 20. September 2012 im alcorde Verlag, Essen 18,80€
Die Erzählungen zeigen Möglichkeiten jüdischen Lebens in einer Kleinstadt des 19. Jahrhunderts. Sie handeln von Menschen jüdischen Glaubens mit all dem, was Menschen ausmacht: Trauer, Hoffnung, Liebe, Tod, Schmerz, Freude, Glauben und Aufbegehren. Es wird nicht erzählt, was war, sondern was hätte sein können: von Eltern, die ihre Kinder nicht verstehen; von Müttern, die an ihren unehelichen Kindern zerbrechen; von Jungen und Mädchen, die sich falsch verlieben, vom Ende einer Hoffnung, als der Sohn stirbt, oder von dem Erfolg, der mit dem Glauben an sich selbst einher geht.
Denn jeder einzelne Mensch ist schon eine Welt,
die mit ihm geboren wird und mit ihm stirbt,
unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte.
Heinrich Heine
Der gute Ort:
beschattet von Buchen, weitab, Grabsteine im Gras,
bemoost, verwittert,
zwischen raschelnden Blättern, Anemonen und Schnee
unlesbar die Schrift, kaum erahnbar
und doch: Kiesel zum Gedenken
An wen?
4.
Die Kerze blakte, flackerte, drohte zu erlöschen. Lange schon war die Nacht herein gebrochen, aber Aaron saß noch immer an dem alten wackligen Holztisch gleich neben dem Ofen. Den Kopf in die Hand gestützt starrte er stirnrunzelnd auf das über und über mit Rechenaufgaben bedeckte Papier, das vor ihm lag, und malte an die Ränder gedankenverloren Kringel mit dem Bleistift. Es reichte nicht, es war unmöglich! Er konnte die Zahlen jonglieren, wie er wollte, das Ergebnis war immer gleich hoffnungslos, es würde nicht einmal für die Überfahrt reichen. Und dann musste er ja auch noch die ersten Wochen und Monate überbrücken, es ging einfach nicht.
Schwer seufzte er auf und fuhr sich mit den Händen in die Haare, dann ließ er den Kopf auf die Tischplatte sinken. Aus der Traum von einem besseren Leben!
Sollte er gezwungen sein, hier auf dem kleinen Anwesen an dem Mintarder Weg zu bleiben, dessen Erträge ja kaum für die Eltern ausreichten, obwohl sie sich keine Ruhe gönnten und Tag und Nacht arbeiteten, um ihr Leben zu fristen? Seit dem Ende der napoleonischen Kriege war die Lage schwierig geworden, und dann kamen die Missernten der letzten Jahre. Wer vom Ackerbau leben wollte, tat sich schwer. Er war zu jung, um sich in dieses Los zu schicken, zu rebellisch auch, um die zunehmenden Schikanen gegen die Juden zu ignorieren. Und seit er als Hilfskraft für Simon Anschel, den Viehhändler, in Buttenheim im Oberfränkischen gewesen war, hatte er seinen Traum. Von Amerika hatte man ihm dort erzählt, dem gelobten Land, in dem Juden frei und ohne Verfolgung leben konnten und in dem jeder etwas werden konnte, wenn er nur wollte. Sein Onkel Levin, der jüngste Bruder seiner Mutter, nur zehn Jahre älter als er selbst, hatte sich bereits vor ein paar Jahren dorthin aufgemacht. In der Gegend zwischen St. Louis, Milwaukee und Cinncinati, dem „deutschen Dreieck“, wie sie genannt wurde, hatte er sich niedergelassen, Land erworben und eine Farm, so nannte man die Bauernhöfe dort, errichtet. Zu ihm könnte er gehen, das war sicher.
Aber zunächst einmal musste er das Geld für die Überfahrt zusammen bekommen. Während er so vor sich hin grübelte, öffnete sich leise die Tür der Kammer, in der die Eltern schliefen, und die Mutter trat zu ihm an den Tisch. Forschend blickte sie ihn an, strich ihm leicht das wirre Haar aus der Stirn, was er zuließ, obwohl es ihm eigentlich gegen seine zwanzigjährige Ehre ging. Ob er denn gar nicht schlafen wolle, fragte sie, sich zu ihm auf die Bank setzend, die der Vater selbst gebaut hatte.
Und da brach alles aus ihm heraus: dass er es hier nicht mehr aushalte, dass er als Jude keine Chancen habe, obwohl er klug und besser ausgebildet war als viele der jungen Männer jenseits der Ruhr. Bauer könne und wolle er nicht werden, er müsse weg, weit weg. Erschrocken blickte die Mutter ihn an, sehr blass werdend. Dass ihr Einziger hier nicht glücklich war, das wusste sie, darüber brauchte er gar nicht zu sprechen, das hatte ihr lange schon Angst gemacht. Aber dass er weg wollte und nun auch noch so weit, das traf sie sehr. Zwanzig Jahre lang, seit dem August 1800, war er ihr ein und alles gewesen, das einzige Kind, das ihr vergönnt war. Sie und ihr Mann hatten alles, was ihnen möglich war, dafür getan, dass er Bildung bekam, lernte, mehr wusste als sie, und es war ihr ganzer Stolz, dass nach Meinung seines Lehrers „viel“ aus ihm werden konnte. Aber doch nicht in Amerika!
Sie blickte ihren Sohn an und sah die tiefe Verzweiflung und die unbändige Sehnsucht in seinen Augen – ...und da ließ sie ihn los, auch wenn sie fast umkam bei dem Gedanken, ihn nie mehr wiederzusehen. Noch einmal strich sie ihm über die Haare, fast schon wie Abschied nehmend, und versprach dann, mit dem Vater zu sprechen und zu sehen, was sie für ihn tun könne.
Zwei Monate später verließ Aaron sein Elternhaus mit einem kleinen Bündel, in das die Mutter ihm einen Kidduschbecher gesteckt hatte, damit er seine Religion nicht vergesse. Ein wenig Geld steckte sie ihm noch zu, das der Verkauf ihres einzigen Schmuckstückes, einer Goldkette, gebracht hatte, ansonsten konnte sie ihn nur dem Herrn empfehlen. Er möge ihn behüten. Lange hielten der Vater und die Mutter ihren Sohn im Arm, wollten ihn nicht loslassen, bis dieser sich mit einem Ruck löste und davon ging Richtung Duisburg, ohne sich noch einmal umzusehen. Hätte er zurück geblickt, hätte er nicht gehen können, das wusste er, und da auch die Mutter das wusste, ließ sie nun ihren Tränen freien Lauf. Lange standen die Eltern so, die Arme umeinander gelegt, in der Tür ihrer Hütte und starrten den Mintarder Weg entlang, auf dem ihr Sohn immer schneller werdenden Schrittes verschwand.
Sie wussten, dass sie viele Monate nichts von ihm hören würden, denn lang und gefährlich war die Reise, und so würde es dauern, bis sie ein Brief von ihm erreichte.
In Duisburg wollte Aaron versuchen, eine Passage zu bekommen, die ihn den Rhein hinunter brachte bis Rotterdam, von wo aus Schiffe regelmäßig Häfen in Nordamerika ansteuerten. Seine Überfahrt wollte er, das hatte man ihm empfohlen, auf Kreditbasis antreten. Dabei verpflichtete er sich, seine Arbeitskraft auf mehrere Jahre seinem künftigen Dienstherrn zu verkaufen, der den Passagepreis für ihn entrichtete. Und dann konnte er weiter sehen.
Mehr als ein Jahr später erhielten die Eltern den ersten Brief ihres Sohnes aus der Neuen Welt, den er unmittelbar nach seiner Ankunft in New York geschrieben hatte. In ihm berichtete er von der monatelangen Seereise, die unter unerhörten Beschwernissen vonstatten gegangen war. Wie die Heringe hatten die Passagiere zusammengepfercht im Bauch des Schiffes gelegen, abgeschnitten von Licht und Luft. Aber es hatte sich gefügt, dass Aaron eine große Gruppe jüdischer Auswanderer aus Württemberg traf, die ihn wie einen alten Bekannten aufnahmen. Besonderes Letzteres tröstete die Mutter, war der Sohn nun doch nicht ganz allein in dieser Welt. Krankheiten begleiteten die Auswanderer. Aaron war zwar abgemagert, aber dennoch frohen Mutes in New York angekommen und hatte mit Moses Katz einen Arbeitgeber gefunden, der unweit von Milwaukee große Viehherden besaß. Die Arbeit schien sich gut anzulassen.
In dem nächsten Brief berichtete er davon, dass er mittlerweile ein freundschaftliches Verhältnis zu Katz habe und sich mehr oder weniger mit der Verwaltung der gewaltigen Viehherden beschäftigte. Diesen Brief hatte der Vater noch erlebt und stolz den anderen Mitgliedern der Gemeinde von seinem Sohn Aaron erzählt, der in der Neuen Welt Karriere mache. Das lenkte ihn von dem Schmerz ab, den jungen Mann wohl nie mehr wiedersehen zu können, und er vermisste ihn doch – wie auch die Mutter – jeden Tag ein wenig schmerzlicher. Wenige Wochen später starb er und erfuhr nicht mehr, dass sein Aaron es zum Geschäftsteilhaber des ehemaligen Arbeitgebers gebracht hatte, für den er unentbehrlich geworden war. Außerdem hatte er 1824 dessen einziges Kind Margalit, Marge genannt, geheiratet.
Nachdem er vom Tod des Vaters gelesen hatte, den er sehr beweinte, drängte er die Mutter, zu ihm nach Amerika zu kommen, wozu diese sich zunächst nicht entschließen konnte. So weit weg von ihrem Mann Emanuel, der dort oben seine letzte Ruhe gefunden hatte, nur durch den Wald von ihr entfernt, aber der Sohn ließ nicht locker, und so machte sie sich im Jahre 1826 auf den langen Weg, auch nur mit einem kleinen Bündel, in dem sie die wenigen wertvollen Sabbatgegenstände aus der alten in die neue Welt mitnahm, damit dort ein Zuhause werde.
Nach sechs Jahren und tausender Kilometer über das Meer hielten sich Mutter und Sohn dann endlich im Hafen von New York umschlungen, weinend, weil der Vater nicht dabei sein konnte, und zugleich glücklich, weil sie einander nun wieder hatten. Bewundernd blickte sie den Sohn an, breitschultrig, selbstbewusst, offen, der hier zum Mann geworden war, und er erschrak darüber, wie schmal und alt seine Mutter geworden war. Viel kräftiger hatte er sie in Erinnerung, und das sollte sie auch wieder werden! Dafür würde er schon sorgen! Liebevoll führte er sie aus dem Hafen heraus und in ihr neues Leben, zu dem Moses, die Schwiegertochter Marge, die ihr freudig entgegen eilte, als die Kutsche sich dem Wohnhaus näherte, und die beiden Zwillingssöhne Moses jr. und Emanuel, die nach den Großvätern benannt worden waren, gehörten. Und auch ihr Bruder Levin lebte mit seiner Familie nicht weit entfernt.
Es ging ihr gut dort. Nur, wenn sie an das einsame Grab, weit entfernt in den Wäldern dort, dachte, weinte sie und wünschte, ihr Mann hätte diese Reise mit ihr machen können.
Der gute Ort:
beschattet von Buchen, weitab, Grabsteine im Gras,
bemoost, verwittert,
zwischen raschelnden Blättern, Anemonen und Schnee
unlesbar die Schrift, kaum erahnbar
und doch: Kiesel zum Gedenken
An wen?
Wenn man den über Siebzigjährigen fragte, welches denn der allerschönste Tag seines Lebens gewesen sei – und seine zahlreichen Enkelkinder fragten ihn das oft – dann glitt zunächst ein Lächeln über sein Gesicht, dann holte er tief Luft und stieß ganz aufgeregt hervor: „Das war Bar Mizwa!“, als sei er noch der dreizehnjährige Bub, der diesen Tag so genossen hatte, diesen Tag, als er endlich einmal im Mittelpunkt gestanden hatte, endlich er.
Seine Enkelkinder kannten alle die Geschichten aus seiner Kindheit, alle, nie war er müde geworden, diese immer wieder zu erzählen, und nie waren sie es müde geworden, ihn dazu aufzufordern. So lange war das alles her, so fern diese Zeit, so anders auch, als man noch eng beieinander in Kettwig vor der Brücke, dem „Bergischen“, gewohnt hatte und sich niemals hatte vorstellen können, dass einmal Autos und Eisenbahnen die Entfernungen schrumpfen ließen und die Familien nicht mehr in nächster Nähe wohnten. Ja, damals, das gefiel ihnen, das war eine Welt, die sie nicht mehr kannten, und deshalb musste der Großvater immer wieder von ihr erzählen.
Als jüngstes von zwölf Kindern war er zur Welt gekommen, sieben ältere Brüder hatte er gehabt und vier Schwestern. Mit ihm hatte wohl keiner mehr gerechnet, denn die Mutter war zur Zeit seiner Geburt weit über vierzig gewesen und der Vater, wesentlich älter als seine Frau, die er als Sechzehnjährige geheiratet hatte, hatte die Sechzig bereits überschritten. Diesem Paar war nun also gänzlich unerwartet ein Sohn geboren worden, dem sie sinnigerweise auch noch den Namen Benjamin gaben, damit jeder wusste, dass er ein „Nachgeborener“ war. Und so wuchs er auf, nicht als der behütete Jüngste in einer großen Familie, sondern als derjenige, den keiner erwartet hatte und der nun eben irgendwie groß werden musste. Wer gerade Zeit hatte, kümmerte sich um ihn, und Zeit hatte man selten, galt es doch, alle Familienmitglieder am Leben zu erhalten. Da der Vater nur eine kleine Riemenwerkstatt unterhielt, war das Geld oft knapp, und die ältesten Kinder mussten ihr Scherflein dazu beitragen, dass alle satt wurden. Dazu verdingten sie sich als Hilfskräfte bei den Nachbarn, gingen wohl auch als Pferdeführer bei den Handelsgruppen mit oder handelten selbst mit dem Wenigen, das der Garten an Überschuss bot. Selbst das Sabbatmahl war stets recht kärglich.
In dieser Familie wuchs Benjamin also auf. Er begann zu laufen, sprach die ersten Wörter, begleitete Bruder oder Schwester in den Garten oder die Landsbergerstraße entlang und wuchs zu einem hübschen dunkelhaarigen Jungen heran. Aber nie war er wichtig, er war einfach da. Man trocknete ihm die Tränen, wenn er weinte, gab ihm zu essen und zu trinken, kleidete ihn mit den Hosen und Jacken, die vor ihm schon manche seiner Geschwister getragen hatten, aber man bemerkte ihn nicht wirklich. Zumindest kam ihm das immer so vor. Stets saß er an dem langen Holztisch in der rußgeschwärzten Küche, dem einzigen Raum, in dem es im Winter warm war, am Ende, Benjamin eben, der – zu aller Erstaunen – Letztgeborene.
Zu gerne hätte er einmal im Mittelpunkt gestanden, ein einziges Mal nur, aber es waren immer Brüder da, die den Segensspruch sprachen, und er war wieder nur der Jüngste, dessen Fehlen wohl niemandem aufgefallen wäre. In der Schule, ja, da war er Benjamin, der Sohn des Aaron und der Rosa, der so schnell lernte und so gut behielt. Dort war er wichtig für die anderen Kinder, die seine Hilfe brauchten, mit denen er nach der Schule durch die Wiesen an der Ruhr rannte. Aber wenn er nach Hause kam, fragte ihn wieder niemand danach, wie es in der Schule gewesen war. Er würde schon auch noch groß werden, da waren sich alle sicher.
Und Benjamin wurde größer, lernte und wusste viel, und seit er zwölf Jahre alt war, fieberte er dem großen Tag entgegen, an dem auch er zum Minjan zählen, einer der Zehn sein würde. Dann würde er nicht mehr der „Lütte“ sein, der auch da war, sondern Benjamin, der die Gesetze achtete, ein wichtiges Mitglied der Gemeinde.
Und er kam, der wichtige Tag!
Wenn der Großvater bis zu dieser Stelle in seiner Erzählung gekommen war, seufzten die Enkel meist auf, kam doch nun bald die Erlösung, wie sie wussten. Der Tag, der dem Großvater die Erlösung gebracht hatte, endlich, nach dreizehn Jahren!
Früh am Morgen des Sabbats, der seinem Geburtstag folgte, erhob Benjamin sich von seinem Lager und setzte sich in der Küche still an seinen Platz am Ende des langen, bereits gedeckten Tisches. Schlafen konnte er nicht länger, zu aufgeregt war er, sollte er doch heute zum ersten Male in dem Gebetshaus aus der Thora vorlesen. Monatelang hatte der Rabbiner ihn unterwiesen in den jüdischen Gesetzen, wochenlang hatte er die Passage gelernt, die er heute vortragen sollte, auswendig konnte er sie. Das Hebräische machte ihm Freude.
Und dann machte sich die Familie mit ihm auf den kurzen Weg, am Rinderbach entlang und dann in die Landsbergerstraße zu der Synagoge, die hinter dem Fachwerkhaus stand. Er ging inmitten seiner großen Familie, alle waren nur seinethalben da, endlich nur seinethalben. Selbst die Brüder und Schwestern, die nicht mehr im elterlichen Hause wohnten – und das waren die meisten – waren gekommen, um die Bar Mizwa mit dem kleinsten Bruder zu feiern.
Von der Straßenseite aus betraten sie das Haus. Genau geradeaus erblickte Benjamin den Thoraschrein, vor den er bald treten und lesen würde. Links von ihm ließ er sich mit den männlichen Mitgliedern seiner Familie nieder. Die weiblichen gingen die wenigen Stufen rechts hinauf zur Empore. Aufgeregt verfolgte Benjamin den Beginn des Gottesdienstes – und dann war er da, der große Augenblick: langsam ging Benjamin in die Richtung des Thoraschreins, freundlich vom Rabbiner begrüßt, der ihm die Stelle zeigt, die er lesen soll. Mit den Fransen seines Gebetsschals berührt er diese ehrfürchtig, küsst dann den Schal und beginnt mit lauter klarer Stimme zu lesen. Aus den Augenwinkeln sieht er, wie die Mutter und die Schwestern sich aufgeregt vorbeugen, um jede Silbe mitzubekommen, und auch die männlichen Mitglieder der Familie recken die Köpfe. Ganz ruhig ist der Junge nun, sicher, denn den Text beherrscht er gut, hunderte Male hat er ihn gesprochen, tausende vielleicht. Die einzige Angst, die ihn beherrscht, ist die, dass seine Stimme umschlägt, wie sie es seit einiger Zeit tut, und das wäre ihm sehr peinlich, heute, an dem Tag, an dem er erwachsen wird. Aber die Stimme hat ein Einsehen, ohne das geringste Krächzen kann er seinen Text zu Ende bringen, deutlich und klar akzentuiert, wie er es sich so lange vorgestellt hatte.
Zuhause versammelten sich alle um den Tisch, gedeckt mit Gebäck, Obst, Likör und anderen Leckereien, die es nur sehr selten gab, gratulierten ihm und feierten, dass er nun erwachsen sei. Er war wichtig, endlich einmal war er wichtig! Niemand übersah ihn, nein, alle sprachen mit ihm, scherzten, der Vater nahm ihn kurz in den Arm, als jemand sagte, wie gut doch Benjamin seine Sache in der Synagoge gemacht hätte, und die Mutter weinte vor Stolz ein wenig vor sich hin. Über die kleinen Geschenke, die die Mitglieder der Gemeinde ihm brachten, freute er sich zwar, aber sie waren ihm nicht so wesentlich. Wichtig war ihm nur dieses neue Gefühl, dass er auch jemand sei – und wichtig war dieses Gefühl auch noch dem über siebzigjährigen Dr. Kahn, der inmitten seiner Enkel saß und von seiner Bar Mizwa erzählte, dem ersten Tag, der ihm ein Gefühl von Wertigkeit gegeben hatte. Heute angesehen als Arzt von allen in Kettwig hatte er doch nie vergessen, wie verlassen sich der kleine Benjamin gefühlt hatte.
Der gute Ort:
beschattet von Buchen, weitab, Grabsteine im Gras,
bemoost, verwittert,
zwischen raschelnden Blättern, Anemonen und Schnee
unlesbar die Schrift, kaum erahnbar
und doch: Kiesel zum Gedenken
An wen?