Es war einmal ein kleines Mädchen, das trug voll Stolz ein Kleid mit wunderschönem Muster, und alle Menschen, denen es begegnete, bewunderten es wegen dieses Kleides. Sie schauten es gerne an, lächelten und freuten sich mit ihm, und das kleine Mädchen lächelte zurück, ging aufrechten Hauptes durch die Welt und fühlte sich ganz sicher mit seinem Kleid.
Eines Tages aber kam ein gewaltiger Sturm auf, als das Mädchen im Wald spazieren ging. Es versuchte sich vor ihm zu verstecken, aber dieser zerrte an seinem Kleidchen so lange, bis das Mädchen es loslassen musste und der Sturm es mit sich nahm. Das Mädchen weinte bitterlich, denn es war doch so stolz auf dieses Kleidchen gewesen , das es so sicher gemacht hatte und an dem alle sich gefreut hatten. Nun entdeckte es, dass es nackt war und erschrak sehr. Es mochte nicht mehr unter die Leute gehen, die es alle nur mit dem wunderschönen Kleidchen gekannt hatten, und es zog sich zurück, saß nur in seinem Kämmerchen, weinte und wollte nicht mehr leben.
Das ging so lange, bis es eines Tages eine Stimme hörte, die zu ihm sprach: „Weine nicht, kleines Mädchen, es kann alles gut für dich werden. Aber du darfst nicht nur in deinem Kämmerchen sitzen. Gehe hinaus in die Welt, so wie du bist!“
Zögernd erhob sich das kleine Mädchen und ging verschämt und ängstlich hinaus in die Welt, nur mühsam seine Blöße bedeckend. Wenn es in die Gesichter der Menschen schaute, die es traf, glaubte es in ihnen zu lesen, dass sie es nicht mehr mochten wegen seiner Nacktheit, und es schämte sich noch mehr. Es ging gesenkten Kopfes, damit niemand es mehr erkannte, und langsamen Schrittes und wollte nicht mehr leben.
Da hörte es wieder diese Stimme, die sprach: „Hebe deinen Kopf, kleines Mädchen, damit du die Rettung siehst. Folge mir, und ich werde dir helfen.“ Und im gleichen Augenblick sah das kleine Mädchen einen Vogel, der vor ihm her hüpfte und mit den Flügelchen schlug. Es ging eine ganze Weile hinter ihm her, bis sie tief im Wald an einen Brunnen kamen. Hier hielt der Vogel an und verschwand.
„Spring in diesen Brunnen, der blaue Fluss dort unten wird dir Rettung bringen.“, hörte es wieder die Stimme, aber das Mädchen traute sich nicht, sondern blieb nur hilflos vor dem Brunnen stehen und weinte. „Spring in diesen Brunnen“, sagte die Stimme erneut. Aber wieder traute sich das Mädchen nicht, sondern weinte noch viel mehr. „Spring in diesen Brunnen“ hörte es die Stimme wieder, und weil es so verzweifelt war und es schlimmer nicht noch kommen konnte, nahm es all seinen Mut zusammen und sprang in den Brunnen.
Es fiel und fiel und fiel, bis es endlich unten den blauen Fluss fand. Aber dieser machte ihm Angst, und es wusste nicht, was es tun sollte. Nachdem es eine ganze Weile gewartet hatte, stieg es vorsichtig mit beiden Beinen in den Fluss, blieb aber dort stehen, weil es die Kälte erschreckte. „Geh in ihn, vertrau dich ihm an“, hörte es, und es ging tiefer in den Fluss hinein. Weil es aber Angst bekam, als der Fluss seinen Körper benetzte, strampelte es heftig und versuchte zu fliehen. „Vertrau dich ihm an, nur so kann dir geholfen werden.“, und es ging weiter, bis seine Füße keinen Boden mehr fanden. „Du musst ihm vertrauen“, hörte es die Stimme zum drittenmal, und da legte es sich auf das Wasser und ließ sich treiben. Als es ganz ruhig geworden war, schaute es um sich und sah, dass der Fluss ein wunderbares, heilsames Blau hatte, und es spürte, dass er es trug. Es sah, wie der Fluss ganz in der Ferne zu einem riesigen dunkelblauen Strom wurde, der in das Meer mündete, und was es sah, gefiel ihm und es dachte einen Augenblick nicht mehr an seine Nacktheit. Es breitete die Arme aus und ließ sich von dem Fluss tragen, und immer, wenn es wieder ängstlich wurde, dachte es an die Stimme: „Vertrau ihm!“. So trug der blaue Fluss es immer weiter abwärts, und je länger es trieb, umso mehr vertraute es dem Fluss und umso weniger dachte es an seine Nacktheit. Das Blau des Flusses hüllte es ein, trug es weiter, mit jeder Welle stieg es empor und senkte sich mit ihr, und es fühlte sich wundersam geborgen in diesem Blau..
Der Fluss wurde zum unendlichen Strom, und als er sich dem Meer näherte, schaute das Mädchen an sich herab. Und es sah, dass es nicht mehr nackt war, sondern ein neues, noch viel schöneres Kleid trug mit einem gar wunderbaren Muster. Und als es genauer hinschaute, sah es, dass in dieses neue Muster das alte gewoben war und beide gemeinsam die Pracht des Kleides ausmachten. Ehe der Fluss das Meer erreichte, streckte sich das kleine Mädchen noch einmal ganz in dem Wasser aus, dass jedes Fetzchen Haut vom Wasser berührt wurde, und ließ sich dann ans Ufer treiben. Ruhig nahm es ein wenig von dem blauen Wasser in seine Hände und wie in einem Kelch trug es es nach Hause. Aufrechten Hauptes und frohen Blickes erreichte es seine Heimat, und alle Menschen, die es sahen, lächelten ihm zu, und als sie das blaue Wasser in seinen Händen sahen, wurden sie froh und freuten sich mit ihm, mehr als je zuvor. Und das kleine Mädchen ging sicher seinen Weg.