Mutter und Tochter
Sie saßen einander gegenüber, seit langem schon. Unerbittlich blickten sie sich an, keine den Blickkontakt zur anderen aufgebend, ein stummer Kampf, lebenslang, unerbittlich.
Da ist sie nun siebenundachtzig Jahre alt, und alle haben geglaubt, sie würde früh sterben. Immer war sie krank gewesen, immer. Schon als Kind hatte sie sich um die Mutter gesorgt, hatte alles getan, um ihr die letzten Jahre ihres Lebens behaglich zu machen. Rücksicht hatte sie gelernt, liebevolle Zuwendung.
Sie liebte die Mutter, gewiss, alles hatte diese doch für sie getan, alles. Aber siebenundachtzig Jahre sind lang, sehr lang. Und in dieser Zeit hatte die Mutter ihr Leben bestimmt, hatte ihr gesagt, was zu tun, was richtig, was passend sei. Ihr Ehemann ertrug dieses Leben nicht mehr, er ging seinen eigenen Weg, ohne Vorwurf, aber unbeirrbar. Sie verstand ihn, zu oft hatte die Mutter ihn verletzt, ihm die Tochter, seine Frau, entfremdet. Immer hatte sie zwischen den Stühlen gesessen, gelitten, leise aufbegehrt. Und dann war die Mutter wieder krank geworden, sie brauchte sie doch. Die Söhne waren erwachsen geworden, studierten, kamen nur manchmal nach Hause, lächelten über die Großmutter und empfanden Mitleid mit der Mutter, wollten sich aber nicht damit auseinandersetzen Sie verstand die Söhne, diese mussten ihren eigenen Weg gehen, sie musste sie loslassen, sie wollte nicht werden wie ihre Mutter. Aber sie liebte sie doch, herrisch wie sie war, alles verschlingend, was ihr in den Weg kam, immer wissend, was das Rechte sei. Manchmal hatte sie den Wunsch, dass es zu Ende gehe, endlich zu Ende gehe. Sie traute sich nie, diesen Gedanken Wort werden zu lassen in ihr, rief sich zur Ordnung, kümmerte sich um die Mutter und versuchte dankbar zu sein, dass sie diese noch hatte.
Dies war ihr einziges Kind, ihr Mädelchen, das sie immer geliebt hatte und noch viel mehr, als ihr Mann früh gestorben war. Da war sie mit ihr allein geblieben, und alles hatte sie getan, dass das Kind glücklich sei. Hübsche Kleidchen hatte sie ihr gekauft, und wie süß hatte sie mit ihren Zöpfchen und ihren lachenden Augen ausgeschaut. Ein fröhliches Kind war sie gewesen. Wie war es nur gekommen, dass nun eine verbitterte Sechzigjährige ihr gegenüber saß? Den falschen Mann hatte sie gewählt, das hatte sie ihr immer wieder gesagt, oft täglich. Und trotzdem hatte sie für die beiden alles getan. Häuser gekauft, geschafft, Geld angehäuft, da konnte sie doch wohl ein wenig Dankbarkeit verlangen. Aber nein. Die Bankvollmacht verlangte man von ihr, entmündigen wollte man sie, ja, sie durchschaute das Treiben. Die sollten nur nicht denken, sie könnten sie wie eine alte Frau behandeln, noch funktionierte sie! Nun gut, manchmal vergaß sie, welcher Tag heute war oder wo sie ihre Sparbücher hingelegt hatte. Aber gestern, als die beiden Theater gemacht hatten, weil alle Unterlagen verschwunden waren, hatte sie sie doch auch neben der Butter im Kühlschrank gefunden. Was sollte es also, die würden auch schon noch alt werden. Und sie sagte ihnen jeden Tag, dass sie beide überleben würde, ja, das würde sie. So gesund waren die nicht!
Mit dem Hund ging die Tochter spazieren, aber nie mit ihr. Dass sie sie zu allen Ärzten fuhr, war schließlich ihre Pflicht, das hätte sie auch für ihre Mutter getan, ganz gewiss. Und das Getue um die Söhne, die wurden von selber groß, aber sie war schließlich krank.
Nie mehr würde sie so viel für die beiden tun, sie würde leben, alles ausgeben, denn Dankbarkeit konnte man ja nicht mehr erwarten, von keinem, nicht einmal von der eigenen Tochter, die nicht lächelte, wenn sie mit ihr zusammen war, sondern oft grimmig schaute und mit ihr schimpfte. Mit ihrer Mutter!
Nie mehr würde sie so nahe bei der Mutter leben, viel früher würde sie sich lösen, wenn sie noch einmal leben könnte. Sie war schließlich nicht nur Tochter, seit sechzig Jahren war sie Tochter! Sie liebte die Mutter, aber – öfter hasste sie sie. Zähneknirschend nahm sie Rücksicht, liebevolle Zuwendung fiel ihr schwer, unendlich schwer... Es musste sich etwas ändern!
Sie hatte ihr Kind erzogen, dass es seine Pflicht kannte der Mutter gegenüber. Aber allzu oft musste man sie daran erinnern. Sie, die Mutter, hatte all das getan, nicht die anderen, nur sie allein!
Die Jüngere hatte dem Blick standgehalten, nun aber senkte sie die Augen, erschöpft, resigniert, und nahm den Triumph in den Augen der Älteren nicht mehr wahr.
Endlich!
Sie stand vor dem Grab, betrachtete das Holzkreuz und ließ ihre Gedanken wandern, ganz frei. Da lag er nun, seit drei Wochen lag er dort, ihr Schwager. Fünfundsiebzig Jahre war er alt geworden, fünfzig Jahre zu lange hatte er gelebt - ihrer Meinung nach. Fünfzig Jahre, in denen er ihrer Schwester das Leben zur Hölle gemacht und seine Kinder früh aus dem Haus getrieben hatte. Wie im Gefängnis hatte er seine Frau gehalten, weggehen durfte sie nur, wenn er mitging, nicht mal in den Supermarkt hatte er sie allein gehen lassen. Auch dorthin war er ihr mit schweren Schritten gefolgt, immer diese misstrauische Miene zur Schau tragend.
Zu ihr hatte sie nie kommen dürfen, obwohl sie doch nur wenige Straßen entfernt im gleichen Dorf lebte. Und wenn sie sich dann mal heimlich getroffen hatten – schwierig war das gewesen, er musste hintergangen und ausgetrickst werden, ungeplant musste es aussehen, durfte also nie bei ihr geschehen, immer nur irgendwo in einem Café oder – schlimmer noch – an der Käsetheke des Supermarktes – ja, wenn sie sich heimlich getroffen hatten, blickte Blanca ängstlich um sich herum, ob sie auch niemand beobachtete, immer bereit, die Flucht zu ergreifen. Wenn er diese Treffen rausbekam, was auch einmal geschah, weil in dem kleinen Dorf ja jeder immer alles sah, dann war es furchtbar für ihre Schwester. Sie war sich nicht sicher, ob er Blanca nicht auch schlug, eigentlich war sie sicher, dass er das tat, nur zugegeben hatte ihre Schwester das nie, selbst heute nicht, wo er doch tot in seinem Grab lag.
Dabei hatte sie doch begonnen zu sprechen, aber alles konnte sie wohl auch nicht erzählen, manches war sicher zu schwer... Und sie, sie hatte es als Sechzehnjährige überhaupt nicht verstanden, als Blanca plötzlich mit diesem Kerl auftauchte, grob und ungeschlacht neben ihrer schönen, schlanken Schwester, deren Leichtigkeit und Lebensfreude sie so sehr bewunderte, und ihn als ihren Verlobten vorstellte. Verlobt mit dem da? Blanca! Was war mit ihr geschehen? Und binnen kürzester Zeit waren sie verheiratet und die Schwester eingesperrt in diese Ehe, gekettet an diesen Mann, der Kontakt zwischen den beiden Schwestern, die vorher fast alles gemeinsam gemacht hatten – aus, von heute auf morgen aus!
Fünfzig Jahre lang hatte sie sich immer wieder gefragt, warum die Schwester das getan hatte. Heute wusste sie es, und es schüttelte sie. Am Abend der Beerdigung, als Blanca das erste Mal bei ihr in der Küche saß und sie beide eine Flasche Wein miteinander leerten, als alle Trauergäste gegangen waren – bei ihr hatte der Leichenschmaus stattgefunden, da erinnerte nichts an ihn – da hatte die Schwester plötzlich zu erzählen begonnen, erst langsam und stockend und dann immer schneller werdend, als ob es endlich aus ihr raus müsse, wie er sie damals als Achtzehnjährige nach einer Feier betrunken gemacht und dann unmittelbar neben dem Schlafzimmer seiner Eltern vergewaltigt hatte. So beschmutzt hatte sie sich gefühlt, als sie verstanden hatte, was da geschah, weit weg hatte sie laufen wollen, um zu vergessen. Aber das war nicht mehr gegangen, er hatte sie geschwängert, ihr erster Sohn war in dieser Nacht gezeugt worden. Mit den Eltern hatte sie nicht sprechen können, die Scham, diese Scham über das, was ihr da widerfahren war, nur seinen Eltern hatte sie sich in ihrer Not anvertraut, und die hatten den Sohn zu der Heirat gezwungen, es gehörte sich so, dass die beiden heirateten, wenn sie schon miteinander geschlafen hatten und sie schwanger war. Fassungslos hatte sie an diesem Abend der Schwester gegenüber gesessen, schweigend, weil Worte nicht helfen konnten. Irgendwann war sie aufgestanden, zu ihr gegangen und hatte sie in die Arme geschlossen, weinend. Weinend darüber, dass niemand mehr rückgängig machen konnte, nichts mehr zu ändern war – ihre schöne lebenslustige Schwester. Mit achtzehn Jahren war ihr Leben zu Ende gewesen, und niemand hatte gewusst, warum. Die Scham...
Und nun lag er dort, ihr Schwager, für immer. Sie schaute auf, blickte in den blauen Himmel über sich, an dem schnell die Wolken zogen, seufzte, atmete tief durch, wie befreit, bückte sich und griff die mit Wasser gefüllte Gießkanne, die neben ihr stand. Sie hob sie auf und trug sie zu dem Kopfende des Grabes, wo sie sie so schnell und heftig platschend entleerte, dass dort eine große Pfütze entstand. „Endlich!“ stieß sie hervor, „endlich, da hab ich fünfzig Jahre drauf warten müssen, du Schwein. Fünfzig Jahre lang wollte ich dir einen Eimer Wasser über den Kopf gießen, fünfzig Jahre! Da hast du ihn, endlich!“, schloss sie triumphierend, drehte sich um, ließ die Gießkanne dort auf dem Grab liegen, wo sie sie entleert hatte, und ging davon, immer schnelleren Schritts.
„Dass das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den mächtgen Stein besiegt...“
(Brecht)
Da geht sie mit ihrem alten blinden Hund, bleibt jetzt stehen, um mit einer Freundin zu sprechen, nimmt den Hund auf den Arm, sieht ihn und lächelt ihm zu, wie nur sie lächeln kann, während sie mit der anderen plaudert, gutgelaunt, fröhlich.
Langsam geht er auf sie zu, schiebt sich fast zu ihr hin mit eckigen ruckartigen Bewegungen, die Unlust ausdrücken, Aggression, Ressentiment. Als sie aufblickt, den Hund auf dem Arm, steht er bereits vor ihr, aufgebaut, bereit zu dem, was er schon lange einmal sagen wollte, was einfach gesagt werden muss. Sie schaut ihn an, offen, und da greift er an, stößt zu mit Worten und Stimme. „Warum ist das Efeu weg? Ist das Ihre Mauer? Dürfen Sie das eigentlich? Dürfen Sie das?“ wiederholt er laut und hart, herausfordernd. Ihr wird das Lächeln schon vergehen, dieses verdammt Lächeln. Aber nein, sie lächelt weiter, sanft blicken ihre Augen, als sie ihm erklärt, dass das Efeu die Mauer zerstört habe. „Ist das Ihre Mauer?“ will er wissen, schiebt das Becken vor und pumpt sich zu seiner gesamten Größe auf, damit er auf sie herabschauen kann. Nun streichelt sie auch noch den Hund, der leise knurrt auf ihrem Arm, diesen Hund, den er noch nie hat leiden können. Sie bleibt stehen, weicht keinen Deut zurück und bejaht ganz ruhig seine Frage. Ja, es sei ihre Mauer. Die wird doch wohl der Teufel holen... sie soll sich endlich aufregen, soll dieses Lächeln abstellen, dieses Lächeln, gegen das er nun heftig anpoltert. „Und überhaupt“, schreit er los, drohend die Hand erhoben, um seinem Gebrüll Gewicht zu verleihen, „und überhaupt“, es sei eine Unverschämtheit, ihr Mann habe... und alles, was jemals an Unrecht geschehen war, wird nun aus der Tiefe der Wut hervorgeholt und ihr entgegengeschleudert, „Ihr Mann, der hat Bauschutt in meine Mülltonne...“ Nun wird sie doch reagieren, jetzt kann sie doch gar nicht mehr anders. Sie jedoch lächelt ihn nun bedauernd an und bestätigt ihm, dass das „nicht nett“ von ihrem Mann gewesen sei, das werde sie ihm aber sagen...
Während sie ihren Hund, der schwer geworden ist, auf den anderen Arm schiebt, hat er neue Munition gefunden, die er nun abschießt. Sie hätte sich über seinen Sohn beschwert, aber ihre Rollladen würden immer laut hoch gezogen, seine Frau könne nicht schlafen. Als sie ihn sanft darauf aufmerksam macht, dass dies immer erst gegen Mittag geschehe und seine Frau dann doch bei der Arbeit sei, verliert er die Nerven gänzlich, lässt Wortkaskaden auf sie einprasseln, heftig mit den Armen fuchtelnd und ihren Widerstand herausfordernd. Während er sich drohend zu ihr herabbeugt, schaut sie aufmerksam zu ihm auf, immer noch ihren Hund kraulend und fragt ihn ganz ruhig: „Was wollen Sie eigentlich von mir? Wollen Sie mit mir streiten?“ Kein Hauch von Aggression ist in ihrer Stimme, nur sanfte Bestimmtheit, er möge ihr antworten. Ihm verschlägt es die Sprache. Fassungslos tritt er einen Schritt zurück, seine Arme fallen langsam herunter, der Körper wird schlaff und nachgiebig, und er weiß nichts mehr zu sagen.
„Ich möchte nicht mit Ihnen streiten“, kommt es nun ganz ruhig von ihr, und sie betrachtet den wolkenlos blauen Himmel. Langsam verwandelt sich ihr Lächeln in ein fröhliches Lachen, dann Gelächter. Während er den Rückzug antritt, sich von ihr abwendet, um zu seiner Haustür zu gehen, ruft sie ihm hinterher: „Schauen Sie mal, alles nass“ und zeigt auf ihre schwarze Hose und die Schuhe, „der Hund musste pieseln, ist das nicht witzig?“
Seine Schultern sinken nach vorne, nur mühsam versucht er einen letzten Rest Würde zu retten, als er die Haustüre aufschließt und in der Dunkelheit des Flures verschwindet.
Ferien
Der Zug hält lange genug in Köln, dass er die drei schweren Koffer, die sie gepackt hat, nacheinander zu ihren im Voraus bestellten Sitzplätzen schleppen kann. Sie, karierte Hose mit Bügelfalten, dazu passende dunkelgrüne Regenjacke, ein Hermèstuch locker darüber geschlungen, ist voraus geeilt, hat, den Kopf wie ein hungriges Vögelchen vorwärts stoßend, alle Nummern gemustert, bis sie an den richtigen angekommen ist. "Hier! Hier, Franz-Georg, kooooomm!" ruft sie mit so durchdringender Stimme, als sei er drei Bergspitzen von ihr entfernt.
Und so wuchtet er nun einen Koffer nach dem anderen - jeder zum anderen exakt passend, eine Kofferfamilie in unterschiedlichen Größen - zu dem angewiesenen Platz, um sie anschließend unter dem prüfenden Blick seiner Ehefrau, einen anch dem anderen auf die Gepäckablage zu stemmen, hoch über ihm. Dabei rutscht ihm sein blau-kariertes Hemd aus der schwarezen Cordhose, so sehr strengt er sich an. Mittlerweile hat sie aber entdeckt, dass das Kofferfach in der Mitte des Waggons noch nahezu frei ist, nur eine einsame Reisetasche steht dort. "Franz-Georg", schallt es nun wieder durch den Zug, "Franz-Georg!" Und als dieser nicht sofort reagiert, wird ihre Stimme schriller, während sie die Vokale in die Länge zieht: "Fraaaanz-Geeee-oooo-rg!" Dieser, die Hände noch hoch gereckt zu der Ablage, wendet sich ihr zu und schüttelt leicht, ganz leicht nur, den Kopf, als er versteht, was sie von ihm will. Und auf ein nochmaliges "Franz-Georg!", dessen Endgültigkeit er wohl einzuschätzen weiß, beginnt er zunächst langsam, als wolle er Widerstand leisten, dann aber immer schneller, die drei Koffer wieder nach unten zu wuchten, auf dem Boden schnaufend abzustellen und sie dann einzeln zu dem Fach in der Mitte des Waggons zu schleppen, immer wieder an den Sitzen rechts und links des Ganges hängenbleibend. Lächelnd schaut sie ihm zu, wie er sein Werk tut, geht dann zu ihrem Sitzplatz und wartet dort auf ihn, der sich nun mit einem hellblauen Taschentuch den Schweiß abwischt, der ihm in den schütteren grauen Vollbart tropft. Aufseufzend lässt er sich auf seinem Platz - am Fenster, da sitzt er immer, dort zieht es ihr zu sehr - nieder, da ertönt schon wieder das nun allen anderen Reisenden sattsam bekannte: "Franz-Georg". Dieser fährt hoch, schaut sie fragend an, ergreift dann den dunkelgrünen Studiosus-Rucksack und legt ihn auf die Ablage. Aber just in diesem Augenblick fällt ihr ein, dass sie doch die Brotzeit brauchen werden, so dass sie ihn, der sich bereits langsam wieder niederzulassen beginnt, erneut am Arm nach oben zerrt. Rucksack wieder runter, Brotzeit raus, Rucksack wieder nach oben - ein oft geübtes Ritual, wie es scheint.
Fragend blickt er seine Frau an, die ihm, so scheint es, nun endgültig erlaubt, seinen Platz einzunehmen genau in dem Augenblick, als die dreizehn Minuten, die der Zug Aufenthalt hatte in Köln, vorüber sind. Das leichte Ruckeln beim Anfahren presst ihn in seinen Sitz, das Taschentuch tut erneut sein Werk, seine Frau sinkt neben ihm nieder -
schöne Ferien, Franz-Georg!
Auf dem Bahnsteig
Gleis 3, Stuttgart Hauptbahnhof. Der ICE nach München ist vor wenigen Minuten eingelaufen, und es wird nicht mehr lange dauern, bis er seine Fahrt fortsetzt. Die Blicke der Reisenden drinnen treffen gelangweilt die der Hastenden, Einsteigenden und Wartenden draußen, nur manchmal haftet ein Auge interessiert…
Zum letzten Male
Eng umschlungen stehen sie unter dem gelben Schild, das die Raucherzone anzeigt. Selbstvergessen, einander so nahe noch und doch schon fern in den Sekunden des Abschieds. Er, hoch gewachsen, den blauen Pullover lässig um den Hals geschlungen, weißes Hemd und dunkelblaue Cordhose, hält seine Reisetasche in einer Hand, mit der anderen zieht er sie noch einmal zu sich heran, schon im Weggehen. Fest drückt er die zierliche Gestalt in dem schwingenden dünnen Blümchenrock und der violetten Strickjacke noch einmal an sich. Nur bis zur Brust reicht sie ihm, und als sie nun den Kopf zu ihm hebt, fallen ihr die langen dunklen Haare weit über den Rücken. Ihr Gesicht sieht der Reisende nicht, er sieht nur, dass der junge Mann seine Tasche absetzt, die freie Hand in ihrem Haar vergräbt und sein Gesicht tief zu ihr herabsenkt, während sie sich ihm entgegen reckt. In einem langen Kuss scheint die Zeit stillzustehen, für die beiden, aber auch für den Reisenden, der diese Szene betrachtet. Dann lässt er sie los, scheint sich fast loszureißen von ihr, muss weg, da der ICE kurz vor der Abfahrt steht, will aber bei ihr bleiben. Und auch sie mag ihn nicht lassen, fasst nach der linken Hand des Wegeilenden, der seine Tasche wieder aufgenommen hat und sich der noch offenen Türe des Zuges nähert. Noch einmal wendet er sich zurück, senkt seine Lippen erneut auf ihre, murmelt ihr etwas zu, das sie kurz aufstrahlen lässt, und dann springt er in den Zug, dessen Abfahrt sie nicht abwartet, sondern erst mit zögerlichen, dann immer schneller werdenden Schritten zur Treppe eilt. Der Reisende sieht, als sie an ihm vorbei eilt, wie sie sich die Tränen fast heftig wegwischt. Ohne zurückzublicken verschwindet sie in der Schar der Menschen auf dem Bahnsteig, während der ICE in die andere Richtung – Stuttgart hat einen Kopfbahnhof – davon fährt.
Ein Abschied wie viele, denkt der Reisende, voller Hoffnung wird sie auf seine Rückkehr warten.
Sie hat ihn nie mehr wieder gesehen….
... Die Blicke der Reisenden drinnen treffen gelangweilt die der Hastenden, Einsteigenden und Wartenden draußen, nur manchmal haftet ein Auge interessiert…
Ich kann ihn nicht lassen
Hoch richtet sie sich auf, strafft die Schultern, streicht sich die graue Strähne aus dem Gesicht, die ihr immer wieder in die Augen fällt. Liebevoll ruht ihr Blick auf dem schlaksigen jungen Mann, der neben ihr über den Bahnsteig schlendert und seinen Rollenkoffer lässig hinter sich her zieht. Wie gut er aussieht mit seinen braunen Locken, die sich so schlecht bändigen lassen und von dem ihm eine immer wieder in die hohe Stirne fällt. Am liebsten würde sie ihm diese zurückstreichen, wie sie es hunderte Male getan hat, als er noch ihr „Kleiner“ war. Ihre Hand zuckt unwillkürlich nach oben, aber als sie in das abwehrende Gesicht des Sohnes schaut, wischt sie sich schnell über ihren Mundwinkel, rot werdend, wie erwischt. Da, da ist Wagen 23, da ist sein Platz. Ohne Sitzreservierung hat sie ihn nicht fahren lassen wollen, obwohl er heftig protestiert hatte. Aber was, wenn der Zug voll ist und er bis München stehen muss? Das passiere schon nicht, hat er gemeint, und wenn schon? Sie solle aufhören, sich Sorgen zu machen, er sei schließlich schon zwanzig.
Zwanzig Jahre war er alt, ihr „Kleiner“ , wo waren nur die Jahre geblieben, in denen er aufgewachsen und zu diesem wunderschönen jungen Mann geworden war, der seine Schritte nun beschleunigte, da der Lautsprecher die baldige Abfahrt des Zuges ankündigte. Mit Leichtigkeit hob er seinen schweren Koffer in den Wagen und drehte sich suchend nach ihr um, die ihm langsam gefolgt war und dabei jeden Zentimeter seines Körpers in sich aufzunehmen versuchte, so als gelte es, die Erinnerung an ihn festzuhalten, an ihn, den jüngsten ihrer drei Söhne, der nun aufbrach in sein eigenes Leben. Das Zimmer in Schwabing war gemietet, einen Teil seiner Möbel hatten sie am letzten Wochenende dorthin gebracht, es würde ihm gut gehen dort, das hatte ihr die Wirtin versprochen. Aber … er würde nun dort sein, nicht mehr bei ihr in dem alten Haus in Zuffenhausen, in dem sie allein zurück blieb. Gewiss, er käme auf Besuch – auf Besuch! Sein Zuhause war nicht mehr bei ihr, nie mehr.
Schwer atmend bleibt sie stehen, und der Reisende im Zug sieht, wie sie haltsuchend nach einer Stange greift. Dann sieht er, wie sie sich aufrichtet, die Schultern strafft und sich die Strähne aus dem Gesicht streicht. Mühevoll lächelnd geht sie den letzten Schritt bis zu dem scheidenden Sohn, der sich liebevoll zu ihr herunter beugt – zwei Köpfe ist er größer als sie, zwei Köpfe! – und sie auf die Wange küsst, noch etwas zu sagen scheint und dann mit Elan in den Zug steigt und ihr im Abfahren zu winkt. Lächelnd steht sie da in ihrem grauen Seidenmantel – chic hat sie sich für ihn gemacht, das hat er immer so gemocht! – die Hand zum Winken erhoben, während ihr eine Träne langsam die Wange herunterrollt.
Ich kann ihn nicht lassen, ich kann es nicht…
... Die Blicke der Reisenden drinnen treffen gelangweilt die der Hastenden, Einsteigenden und Wartenden draußen, nur manchmal haftet ein Auge interessiert…